Modul 1: PSYCHOLOGIE
1. Psychologische Bedürfnisse im Raum
Die Gestaltung von Räumen beeinflusst direkt, ob grundlegende psychologische Bedürfnisse erfüllt werden. Im Fokus stehen:
- Sicherheitsbedürfnis: Schutz vor Bedrohung, psychisches Wohlgefühl
- Orientierung: Fähigkeit, sich räumlich zurechtzufinden und kognitive Karten zu bilden
- Kontrolle & Autonomie: Gestaltungsspielräume und Anpassbarkeit der Umgebung
- Privatsphäre & Rückzug: Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz
- Stimulation & Reizvermeidung: Sensorisches Gleichgewicht zur Unterstützung der Umweltbewältigung
- Identifikation: Selbstwirksamkeit, emotionale Bindung und Zugehörigkeit zum Raum
2. Aneignung & Personalisierung
- Aneignung beschreibt, wie Nutzer:innen Räume aktiv „zu ihren eigenen“ machen, z. B. durch Wiederholung, Routine, Platzwahl oder individuelle Nutzung.
- Personalisierung meint die bewusste Gestaltung oder Veränderung durch persönliche Gegenstände, Farben, Symbole oder Nutzungsarten. Beide Prozesse fördern Bindung, Identifikation und Nutzungsqualität.
3. Raumwahrnehmung und Umweltpsychologie
- Proxemik (Edward T. Hall): Nähe-Distanz-Zonen beeinflussen Verhalten und Kommunikation
- Raumwahrnehmung: Wie Offenheit, Enge, Licht, Material und Struktur auf unser Erleben wirken
- Priming & Konditionierung: Räume speichern Erfahrung – sie beeinflussen durch Wiederholung Verhalten und Erwartungen
4. Verhalten im Raum
- Behaviour Setting Theory (Roger Barker): Räume strukturieren Verhalten durch das Zusammenspiel von Ort, Zeit und sozialer Rolle. Klassische Settings wie Klassenzimmer, Bahnhöfe oder Wartebereiche erzeugen klare Erwartungen.
- Locus of Control: Die subjektiv empfundene Kontrolle über die Umgebung beeinflusst Handlungsbereitschaft, Zufriedenheit und Stress.
- Umweltstress: Lärm, Unübersichtlichkeit oder visuelle Reizüberflutung können kognitive Überlastung verursachen.
- Kohärenz & Komplexität (Kaplan & Kaplan): Menschen bevorzugen Umgebungen, die verstehbar (kohärent) und gleichzeitig reizvoll (komplex) sind.
5. Emotion & Kognition im Raum
- Wahrnehmung von Ordnung oder Chaos beeinflusst Konzentration, Ruhe und Wohlbefinden.
- Kognitive Karten: Mentale Abbilder von Räumen dienen der Orientierung und Sicherheit.
6. Gesundheitspsychologische Aspekte
- Rückzugsorte und gestalterisch ruhige Umgebungen fördern Stressabbau und Regeneration.
- Erlernte Hilflosigkeit entsteht in Umgebungen ohne Einfluss- oder Gestaltungsoptionen.
- Attention Restoration Theory (Kaplan): Naturnahe, komplexe aber verständliche Räume fördern geistige Erholung.
7. Entwicklungs- und Alterspsychologie
- Kindliche Aneignung: Kinder erkunden und „lesen“ Räume auf eigene Weise – dafür braucht es Spielräume und Flexibilität.
- Altersgerechtes Bauen: Kognitive Fähigkeiten und Mobilität im Alter beeinflussen Raumwahrnehmung und -nutzung.
- Verlust von Handlungsspielraum im Alter kann psychische Belastung verstärken – Architektur kann gegensteuern.
8. Bedarf vs. Wunsch – Partizipation reflektiert
- Sinnvolle Partizipation zeigt subjektive Wahrnehmungen, unterstützt Identifikation und erfüllt psychologische Bedürfnisse wie Mitbestimmung und Selbstverwirklichung.
- In der Planungspraxis müssen erkundete Wünsche von konkretem Bedarf abgegrenzt werden – ergänzende Analyseverfahren sind daher erforderlich.
Modul 2: SOZIOLOGIE
1. Architektur als soziales Fundament
- Gebaute Strukturen schaffen die Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Prozesse. Architektur beeinflusst nicht nur Nutzung, sondern auch Zugehörigkeit, Begegnung und Teilhabe. Wer sich wo bewegt, begegnet oder abgrenzt, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis räumlicher Entscheidungen.
2. Gesellschaftliche Herausforderungen und psychische Gesundheit
- Urbaner Raum ist zunehmend mit psychischen Belastungen verbunden – chronischer Stress, Reizüberflutung und soziale Isolation treten überdurchschnittlich häufig auf.
- Architektur und Stadtgestaltung wirken unmittelbar auf das Stresserleben, wie Studien aus der Umwelt- und Gesundheitspsychologie zeigen (z. B. Lederbogen et al., Adli).
3. Räume als soziale Verstärker
- Die räumliche Ordnung spiegelt soziale Strukturen wider – wer sich begegnet, wo Rückzugsräume existieren, wie öffentlich und privat zoniert wird, hat direkten Einfluss auf Gemeinschaftsbildung oder soziale Abschottung.
- Räumliche Gestaltung kann Nähe ermöglichen – oder Ausschluss festschreiben.
4. Einsamkeit und bauliche Isolation
- Soziale Isolation ist ein objektiv messbarer Zustand – fehlende Interaktion, fehlende Teilhabe – unabhängig vom subjektiven Einsamkeitserleben.
- Bestimmte Wohntypologien oder fehlende Übergangszonen können unbeabsichtigt Vereinsamung fördern – auch in dicht besiedelten Räumen.
5. Zonierung und Übergänge
- Zonierungen (öffentlich, halböffentlich, kollektiv privat, halbprivat und privat) beeinflussen, wie Menschen Räume nutzen. Entscheidend ist nicht nur die Einteilung, sondern die Qualität der Übergänge: Offen gestaltete Übergänge fördern Aneignung und Interaktion, scharf getrennte Räume erzeugen Rückzugs- oder Ausschlussverhalten.
6. Sozialraumstudien und Verhaltensanalyse
- Mithilfe von Beobachtungen, Nutzerprofiling, Frequentierungs- und Raumanalysen lassen sich Muster im Raumverhalten erkennen: z. B. Rückzug, Vandalismus, Interaktion, Nutzungsverweigerung oder Aneignung.
- Solche Analysen helfen, auch ohne direkte Beteiligung belastbare Aussagen zu Nutzerbedürfnissen zu treffen.
7. Bedürfnisse erkennen – auch ohne Beteiligung
- Da Beteiligungsverfahren oft nur einen Teil der Nutzer:innen erreichen, braucht es ergänzende Strategien zur Bedarfsermittlung ohne Beteiligung.
- Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaft liefern Methoden zur indirekten Erfassung von Bedürfnissen – durch Verhaltensmuster, Umfeldanalysen und bekannte Nutzungskonflikte.
- Denn: Hinter jedem geäußerten Wunsch steckt ein tieferliegendes Bedürfnis.
8. Transformation von Bedürfnissen in Planung
- Bedürfnisse müssen in funktionale, soziale und atmosphärische Anforderungen an Räume übersetzt werden. Nur dann kann Architektur über lange Zeit wirken.
- Ziel ist es, differenzierte Räume zu gestalten, die vielfältige Aufenthalts- und Nutzungsmöglichkeiten bieten – und damit soziale Interaktion, Orientierung und Zugehörigkeit fördern.
Modul 3: NEUROWISSENSCHAFT
1. Einführung in die Neuroarchitektur
- Neuroarchitektur erforscht, wie die gebaute Umwelt unser Gehirn, unsere Wahrnehmung, Emotionen und unser Verhalten beeinflusst. Ziel ist es, Architektur evidenzbasiert so zu gestalten, dass sie das Wohlbefinden, die Orientierung, das soziale Miteinander und die mentale Gesundheit unterstützt.
- Grundlage ist das Zusammenspiel von Umweltreizen, sensorischer Verarbeitung und körperlicher Interaktion mit dem Raum.
2. Enaktivismus – Wahrnehmung entsteht durch Handlung
- Enaktivismus beschreibt, dass Wahrnehmung nicht passiv geschieht, sondern durch Bewegung, Handlung und Interaktion mit der Umgebung entsteht.
- In der Stadtgestaltung bedeutet das: Räume formen unser Verhalten – aber gleichzeitig füllen wir diese Räume durch unsere Nutzung mit Bedeutung. Architektur wirkt so nicht als Kulisse, sondern als aktiver Mitgestalter von Erfahrung.
3. Affordanzen – Handlungsimpulse durch Raumgestaltung
- Affordanzen bezeichnen jene Eigenschaften eines Raums, die intuitiv zu bestimmten Handlungen einladen – z. B. eine Kante zum Sitzen, eine Nische zum Rückzug. Menschen erkennen diese Möglichkeiten meist unbewusst.
- Gut gestaltete Räume aktivieren durch Affordanzen soziale Interaktion, Rückzug oder Bewegung, ohne explizite Anweisung – sie funktionieren durch implizite Kommunikation.
4. Interpersonelle Distanzen & peripersonaler Raum
- Der peripersonale Raum ist der direkte Schutzraum um den Körper. Architektur beeinflusst, ob dieser eingehalten oder verletzt wird – und damit, ob sich Menschen sicher oder bedroht fühlen.
- Eine sensible Gestaltung ermöglicht frei wählbare Nähe, vermeidet Enge und schafft sozial verträgliche Distanzen. Dies ist essenziell für die Qualität von Begegnungen im öffentlichen Raum.
5. Kognitive Prozesse in der Raumwahrnehmung
- Kognitive Prozesse sind geistige Vorgänge, die es uns ermöglichen, Informationen aus der Umgebung aufzunehmen, zu verarbeiten und darauf zu reagieren. Dazu zählen:
- Aufmerksamkeit (z. B. was lenkt den Blick?)
- Gedächtnisbildung (z. B. wie merken wir uns einen Weg?)
- Orientierung (z. B. wo finde ich mich zurecht?)
- Entscheidungsverhalten (z. B. wo bleibe ich stehen oder gehe weiter?)
- Architektur beeinflusst diese Prozesse direkt – etwa durch klare Wegeführung, gute Lesbarkeit, visuelle Reize oder Reizreduktion. Eine gelungene Gestaltung unterstützt mentale Entlastung, kognitive Klarheit und Sicherheit.